Die 400-km-Voralpen-Rundfahrt – Mein erstes Brevet

„Besorg Dir ein Fahrrad. Wenn Du lebst, wirst Du es nicht bereuen.“ – Mark Twain

Im Winter, wenn das Rad im Keller steht und die Abende am warmen Kaminfeuer lang sind, vergisst man die Anstrengungen und Schmerzen des vergangenen Radsommers. In den unendlichen Weiten des Internets stößt man auf verrückte Aktionen von noch verrückteren Radfahrern. Radonneure nennen sie sich, Radwanderer. Ihr Können beweisen sie in sogenannten Brevets, also Prüfungen. Keine Rennen sind das, sondern vorgegebene Routen mit Kontrollstellen, die in einem festgelegten Zeitfenster durchfahren werden müssen. Für Navigation und Verpflegung ist man selbst verantwortlich. Das Konzept klingt interessant. Noch interessanter: Die Touren sind zwischen 200 und 600 Kilometer lang.

Mit wenigen Klicks gelangt man auf den in der heimatlichen Stadt ansässigen Radonneursclub- Ableger ARA München/Oberbayern. Die angebotenen Strecken erscheinen reizvoll, die Fotos sind fantastisch, die unbekannte Herausforderung lockt. Und ehe man vernünftig nachdenkt, hat man sich auch schon für ein 400 Kilometer langes Brevet angemeldet.

Im Frühjahr beginnt das Training: Der neue Sattel will eingefahren werden, die neue Sitzposition ist noch ungewohnt. Nachdem im Winter der Bauch das am meisten beschäftigte Körperteil war, fordern die regelmäßigen Runden an der Isar und im Erdinger Moos nun wieder vermehrt die schwachen Beine. Ich absolviere fast ausschließlich kurze, intensive Einheiten, für die langen Fahrten fehlt die Zeit. Die Generalprobe am 1. Mai über 220 Kilometer durchs Wittelsbacher Land misslingt gründlich: Magenverstimmung, Hitzeschlag, schlechte Beine, Anfängerfehler – von meiner Form des letzten Augusts, als ich mit dem Mountainbike in dreizehneinhalb Stunden vom Kochelsee zum Gardasee geradelt bin, bin ich weit entfernt.

Deshalb bin ich ein bisschen angespannt, als ich am Samstag, den 12. Mai, morgens zum Roecklplatz rolle. 400 Kilometer Anfang Mai? 5000 Höhenmeter? Mit dem Mountainbike? Ohne GPS-Gerät? Ist das alles vielleicht nicht doch ein bisschen arg ambitioniert?

In der Bäckerei bekomme ich meine Startunterlagen ausgehändigt, ein einfacher gelber Pass, der an den Kontrollstellen abgestempelt wird. Die meisten eintreffenden Radonneure scheinen sich zu kennen. Mein MTB fällt zwischen den ganzen Rennrädern natürlich auf, von allen Seiten bekomme ich Aufmunterungen und wertvolle Tipps. Im Startblock fallen Monty-Python-Zitate. Ich mag den Humor der Radonneure.

Und dann geht es auch schon los: Mit weit über 30 km/h knallt die Startgruppe 2 aus München hinaus, sind die denn alle wahnsinnig? Bald finde ich mich am Ende einer gemäßigteren Gruppe wieder. Im Windschatten versuche ich Kräfte zu sparen. Es ist mir unangenehm, selbst kaum Führungsarbeit zu übernehmen, aber bei diesem Tempo kann ich das mit dem MTB einfach nicht dauerhaft leisten. Aufwärts habe ich dank meiner übersetzungsbreite keinen Nachteil, doch wehe, die Straße beginnt zu fallen: Dann rollen mir die Anderen einfach davon …

Am Tegernsee stauen sich die Autos, mit dem Rad kommt man einigermaßen durch. Dann folgt die wunderschöne Straße in die Valepp und zum Spitzingsee. Am Albert-Link-Haus bekomme ich den ersten Stempel und eine kühle Spezi. Nach rasender Abfahrt vom Spitzingsattel – mein Begleiter wartet dankenswerterweise – geht es nach Bayerischzell. Am Sudelfeld fahre ich meinen eigenen Rhythmus, nach der Abfahrt verspeise ich meine selbstgemachten Reiskuchen und überquere mit einer kleinen Gruppe den Inn. Ansteigend geht es zum Walchsee, der zweiten Kontrollstelle. Nur eine kurze Rast zum Auffüllen der Flüssigkeitsvorräte, ich will mein kleines Zeitpolster ausbauen. Doch mein Begleiter, an den ich mich halten will, ist zu schnell für mich, ich muss ihn ziehen lassen. Von Kössen bis St. Johann bin ich daher alleine unterwegs, die Orientierung fällt mir dank des ausgedruckten Roadbooks auch ohne Navi nicht schwer.

In St. Johann schließlich entladen sich die unheilschwanger dunklen Wolken. Ich stelle mich unter ein Hüttendach und saniere gelassen meinen Energiehaushalt. Nach einer halben Stunde geht es weiter, die Routenführung bis Kitzbühel ist ohne GPS etwas verwickelt. Die Auffahrt zum Pass Thurn erscheint anfangs sehr leicht: Flach mit Rückenwind. Doch dann wird der Anstieg immer länger, die Straße steilt auf. Nach knapp 200 Kilometern brechen meine Beine plötzlich ein.

Zu meinem Glück holt mich hier ein Radonneur ein, der bis zur Passhöhe den Rhythmus vorgibt. Immer hart an meinem momentanen Limit konzentriere ich mich ganz darauf, sein Hinterrad zu halten: Dieser Energieakt könnte sich später noch rächen, doch ohne das Wissen um einen Begleiter würde ich in dieser körperlichen und mentalen Schwächephase die Passhöhe wohl gar nicht erreichen. Irgendwann sind wir endlich oben, nur um jetzt in einen richtigen Wolkenbruch zu geraten. Danke für Nichts, Petrus! Die Sonnencreme läuft mir mit dem Regenwasser in die Augen, die Abfahrt ist wahrlich kein Vergnügen. Das noch 200 Kilometer vor mir liegen, daran darf ich jetzt nicht denken.

In Mittersill erwerbe ich einen bunten Mix an Verpflegung: Cola, Cookies, Gummibärchen – Der Albtraum eines jeden Ernährungberaters, aber ich brauche jetzt Zucker. Ich montiere Fahrradlicht und Stirnlampe. Dann atme ich noch einmal tief ein. Jetzt kommen die kritischsten Punkte der Tour. Die Fahrt in die Nacht hinein und der Anstieg zum Gerlospass.

Doch Aiolos meint es wieder einmal gut mit uns Radonneuren: Der Gott des Windes schiebt uns nach Westen, die Straße ist nass, doch von oben bleibt es trocken. Es wird dunkel. Das ist gut, dann sieht man die Steigung nicht. Denn jetzt geht es aufwärts. Es erscheint irgendwie surreal: Es ist so still und friedlich. In stockdunkler Nacht erkennt man über sich die roten Rücklichter und unter sich die hellen Frontscheinwerfer der anderen Radonneure. Wenn jemand in den Wiegetritt geht, wackelt der Lichtkegel, weithin sichtbar. Jeder ist ganz mit dem Anstieg und sich selbst beschäftig. Mal überholt man, mal wird man überholt. Gefühlt ist hier jeder von uns am Anschlag.

Und dann passiert es: In dieser eigentümlichen Stimmung verliebe ich mich in mein Radonneurs- Dasein. Ich bin absolut am Limit und verfluche diesen nicht enden wollenden, verdammten Anstieg, der meine Lunge und meine Beine zum Brennen bringt. Und gleichzeitig erfüllt mich eine aus der Tiefe kommende Freude, jetzt, zu dieser nächtlichen Stunde, mit den anderen Radonneuren hier zu sein und unentwegt in die Pedale zu treten.

Auf der Passhöhe läuft vieles zusammen. Alle verpflegen sich noch einmal und ziehen sich sämtliche verfügbaren Kleidungsschichten an. Die Abfahrt bereitet selbst bei Dunkelheit Freude. Wie schön muss es hier bei Tageslicht sein! In eleganten Schwüngen geht es nach unten, bis Zell am Ziller sind nur die Bremsfinger und nicht mehr die Beine gefordert. In einer kleinen Gruppe geht es durch das verschlafene Zillertal über kleine Nebenstraßen. Ich habe Hunger, aber bis zur nächsten Kontrolle will ich die Hinterräder schon aus Orientierungsgründen halten.
Ausgepowert erreichen wir die Tankstelle in Jenbach. Hier gibt es Kaffee und zwei Brezen. Regelmäßiges Essen und Trinken ist auf solche langen Strecken entscheidend. Wahrscheinlich mag ich den Sport deshalb so gerne.

Jenbach war mein großes Zwischenziel. Von hier gäbe es eine Bahnverbindung nach München. Ich bin zwar müde und kaputt, aber Aufgeben kommt jetzt überhaupt nicht infrage. Es bleibt noch so viel Zeit für die letzten 100 Kilometer …

Vor der letzten großen Steigung, dem Achenpass, haben Alle ordentlichen Respekt. Der Körper ist müde, die Beine sauer, und der Geist erinnert sich noch gut an die Strapazen am Gerlospass. Kurz diskutiert man über die verschiedenen Varianten hinauf zum Achensee. Hier kann ich von der Erfahrung der älteren lernen: Auf der neuen Passstraße schieben wir uns bei moderaten Steigungsprozenten kraftsparend langsam nach oben. So geht es recht gut.

Der Achensee zieht sich viel länger, als ich ihn in Erinnerung hatte. Dann geht es endlich abwärts. Von Achenkirch rollen wir zum Sylvensteinstausee, in wilder Fahrt sausen die Räder hinab nach Lenggries. Wieder zieht sich die Straße in die Länge und mein Mitstreiter macht noch einmal ordentlich Dampf. In seinem Windschatten geht es zügig voran.
Um halb fünf erreichen wir den McDonald’s in Tölz – gerade noch rechtzeitig, um fünf schließt das Schnellrestaurant. So haben wir noch einmal Gelegenheit, die Energiespeicher zumindest ein bisschen aufzufüllen: Eine Cola und drei Hamburger – Dass mein Magen hier nicht rebelliert, sondern sogar so etwas wie Genuss empfindet, hätte ich vorher wirklich nicht erwartet.

Also auf zur letzten Etappe. Die Distanz ist übersichtlich, das Zeitpolster groß. In Tölz beginnt es bereits zu dämmern. Im Voralpenland warten noch ein paar kleine Hügel. Kleine Hügel, die einem nach der bereits absolvierten Distanz wie ausgewachsene Berge vorkommen. Mal bekommt man die zweite, ach was, die dritte, vierte, x-te Luft, dann geht es gut. Doch schon am nächsten Hügel sieht es wieder ganz anders aus, mühsam stampft man nach oben.

Es wird immer heller. In Dietramszell ist es soweit: Die Sonne geht auf. Die Lichtstrahlen glitzern durch die Nebelschwaden, die über den Wiesen liegen. Es ist wunderschön. Das Licht wärmt Körper und Gemüt. Man wird wieder wacher. Es ist nicht mehr weit. Schon sind wir wieder im Pullacher Forst. Die Hinfahrt, war sie tatsächlich erst gestern? München am Sonntagmorgen, alles ist noch ruhig.

Und am Ende geht es ganz schnell: Dort vorne ist schon die Wittelsbacherbrücke, gleich dahinter, auf der linken Seite, die Aral-Tankstelle. Das Ziel. Ein letzter Stempel, endlich ist der gelbe Pass voll. 419 Kilometer in 22 Stunden und 55 Minuten. Ich habe mein erstes Brevet erfolgreich bestanden.

Zum Abschluss genießen wir noch ein Schokocroissant, wir haben es uns wirklich verdient. Für den Außenstehenden muss es ein groteskes Bild sein, wie wir, geschafft aber glücklich, auf dem harten Boden hocken. Man unterhält sich über die Höhen und Tiefe der vergangenen Stunden, man preist das Essen, die baldige Dusche, das Bett. Glückshormone durchströmen den Körper, jeder ist aufgekratzt. Dann verabschieden wir uns. Ich rolle nach Hause, stolpere unter die Dusche, falle ins Bett.

Den Nachmittag verbringe ich dösend auf der Couch. Meine Mitbewohner bestaunen meinen nicht enden wollenden Appetit. Bis auf kleine Wehwehchen geht es mir richtig gut.
Ich bin glücklich: Ich habe mein erstes Brevet erfolgreich absolviert. Die Organisation hat mir gut gefallen, die Radonneure sind eine Gruppe von ganz individuellen, interessanten und vor allem sehr sympathischen Menschen. Am Gerlospass und beim Sonnenaufgang in Dietramszell habe ich Blut geleckt. Ich werde wiederkommen. Ich bin erst 22 Jahre alt, mein Körper wird noch ausdauernder. Der nächste Winter kommt bestimmt. Am warmen Kaminfeuer wird man sich der Qualen am Pass Thurn nicht mehr erinnern. Wer weiß, vielleicht klickt man dann versehentlich auf die Anmeldung zum 600-Kilometer-Brevet? Und dann gibt es da ja noch diese legendäre Veranstaltung im Nordwesten Frankreichs. Nicht 2019, aber 2023 vielleicht. Bis dahin reicht das Budget dann vermutlich sogar für einen schönen Renner. Wobei: Mit dem Mountainbike kann man schon auch so einiges leisten …

©Stefan Huber

Newsletter

Mit unserem Newsletter auf dem Laufenden bleiben!